Nachricht

Ist Momo nur ein Märchen?

(c) Friedrich Hechelmann
(c) Friedrich Hechelmann

Doch ist es nicht nur diese innere Verbindung, die MOMO bis heute zu einem der beliebtesten Bücher der Welt macht. Dem Roman liegt offensichtlich auch eine prophetische Kraft inne, denn viele Details der Erzählung scheinen aus unserer heutigen gesellschaftlichen Realität zu erzählen.

 

Momo lebt in der Ruine eines Amphitheaters in einer kleinen verschlafenen Ortschaft. Sie hat einen materiellen Besitz und nur eine einzige besondere Fähigkeit: Sie kann so gut zuhören, dass Menschen durch die Begegnung mit Momo ihre Angst verlieren, Streitigkeiten beilegen können, ihre eigene ganz einzigartige Besonderheit wahrnehmen und neuen Mut schöpfen können. So ist Momo von einem großen Freundeskreis umgeben.

 

Doch die Menschen der Ortschaft geraten schleichend unter den Einfluss von namenlosen Agenten einer Zeitsparkasse. Die grauen Herren verströmen eine beängstigende Kälte, umhüllen sich mit dem farblosen Rauch ihrer Zigarren und treten mit dem immer gleichen Angebot auf: Sie behaupten, eingesparte und bei ihnen angelegte Zeit nach Jahren mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen und sie belegen dies anhand beeindruckender Zahlen.

 

Ihrem Angebot kann kaum jemand widerstehen und das verändert die Stimmung der kleinen Gemeinschaft in kurzer Zeit sehr stark: Die Menschen beginnen ihr Leben zu rationalisieren. Zunächst sind es nur vereinzelte, die ihr Verhalten verändern, jedoch sind diese dadurch wirtschaftlich erfolgreicher und angesehener als andere und so dringt das Phänomen des Zeitsparens rasch in alle Bereiche des Lebens vor. Die wenigen, die sich zunächst noch gegen den Druck wehren wollen, werden von der Masse mitgerissen. In Erwartung eines besseren Lebens nach der Rückzahlung ihrer rasch wachsenden Rendite an Sekunden, Minuten und Stunden werden die Zeitsparer den grauen Herren immer ähnlicher. Doch die gesparte Zeit kehrt niemals wieder zu ihren Eigentümern zurück, denn die Lebenszeit der Menschen stirbt, wenn sie nicht mehr im Besitz ihres ursprünglichen Eigentümers ist.

Michael Ende hat in vielen seiner Geschichten mit gesellschaftlichen Fragen und Theorien gespielt, Figuren und Handlungen auf Basis von Gedanken entwickelt, die sich nicht auf den ersten Blick offenbaren. So enthält auch MOMO eine bisher kaum beachtete tiefere Ebene, die die Geschichte zu einem wertvollen Erbe, zu einer Anregung, fast zu einer Anleitung für unsere von grauen Herren vereinnahmte Gegenwart macht.

 

Die Geldfrage

“Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass unsere Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich, oder sogar vorher die Geldfrage gelöst wird”, schrieb Michael Ende in einem Brief über die Hintergründe seiner Geschichte.

 

Wir dürfen MOMO also verstehen als Parabel über Geldsysteme, ihre Konstruktion und deren Auswirkungen auf die menschliche Gemeinschaft.

 

Momo schafft ökonomisches Bewusstsein

 

Dass Geldsysteme gestaltbare Konstruktionseigenschaften besitzen, ist bisher kaum zu einem Teil des gesellschaftlichen Bewusststeins geworden. Die Konstruktion eines Geldsystems trägt viele Facetten in sich. Sie offenbart sich unter anderem auch in der Frage, die eine Bank stellt, wenn sie Geld schöpft. Bei der Vergabe eines Kredits, dem Schöpfungsakt in unserem System, ist es die Frage nach Wachstum: “Bist du leistungsfähig genug, um uns in Zukunft mehr zurückzugeben als wir heute in dich investieren”?

 

Unser Geld entsteht also durch ein Wachstumsversprechen. Es ist dadurch gleichsam auf Wachstum programmiert und nimmt Einfluss auf den Charakter aller Leistungen die durch dieses Geld finanziert werden. In einer Wirtschaft, die mit so konstruiertem Geld durchwirkt ist, muss alle wirtschaftliche Tätigkeit, müssen alle Teilnehmer – freiwillig oder unfreiwillig – nach Wachstum streben.

 

Wie viele Menschen sind gezwungen, sich täglich als Zahnrad im Takt dieser Maschine zu drehen? Wie oft bewegt uns die Sorge um Geld dazu, die Konsequenzen unseres Handelns innerlich zu leugnen oder gegen unsere Überzeugungen Kraft und Zeit aufzubringen, um wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen?

 

Diese Wachstumsdynamik liegt dem Geld schon seit vielen Generationen inne. Heute jedoch verursacht sie durch die globale Vernetzung der Ökonomie und durch die Möglichkeiten der modernen Technik besonders dramatische Gefahren und Schäden. Unser Geld erfordert eine Ausbeutung von natürlichen und menschlichen Ressourcen bis über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus.

 

Mit Blick auf diese Zusammenhänge sagte Michael Ende in einem Interview, dass uns in diesem Kontext nur die Wahl bliebe zwischen einem wirtschaftlichen Kollaps und einer ökologisch-gesellschaftlichen Katastrophe.

 

Die grauen Herren

»Ob einer seine Arbeit gern, oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig. Im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, dass er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete”.«

(aus Momo von Michael Ende)

 

Michael Ende hat in MOMO die Ausbeutung der Lebenszeit hervorgehoben. Die Menschen verschwinden zunehmend hinter ihrer Arbeit, die ihnen zugleich immer weniger entspricht und damit sinnentleert wird. Die Arbeitszeit nimmt den Menschen den Raum für ihre private Zeit. Zwischenmenschliche Begegnungen und Freundschaften werden flüchtiger. Eltern vernachlässigen ihre Kinder und trösten sie mit Konsumartikeln und Statussymbolen.

 

Die Menschen verlernen, sich füreinander Zeit zu nehmen und sich gegenseitig zuzuhören. So schlägt sich der Zeitmangel zuletzt auch in den Gesprächsgewohnheiten der Gemeinschaft nieder: Begegnungen reduzieren sich auf rationale Inhalte. Die Menschen verstehen sich nicht mehr und rücken voneinander ab. Es entstehen ergebnislose Diskussionen und Streit.

 

Unser Geldsystem ist die systemische Manifestation von Hierarchie, Macht und Besitzanspruch. Seine Eigenschaften wiederum haben Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Es hat sich über Generationen in gesellschaftlichen Strukturen, in unseren Herzen und in Verhaltensmustern eingeprägt und ist dabei zu einer Art kollektivem Geld-Trauma angewachsen.

 

Dieses Trauma hat viele Erscheinungsformen. Wir begegnen ihm in der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, es zerreißt die menschliche Gemeinschaft in Reich und Arm, es wirkt als bedrohliche Macht des Mammon über die Demokratie, es erzeugt Konkurrenz- und Zeitdruck und wachsende Zahlen von Burnout, Depressionen und Selbstmorden.

 

Existentielle Angst steht oft in unmittelbarem Zusammenhang mit Geld und wird dadurch zur Hauptursache für Menschen, ihre Zeit und Kraft für eine Tätigkeit zu opfern, die nicht ihrem Wesen entspricht. Es macht uns zu grauen Herren.

 

Dennoch lohnt es sich, diesem System Aufmerksamkeit zu schenken, denn so groß die destruktive Kraft des Geldes heute ist, so groß ist auch die Chance, die in seiner bewussten Konstruktion liegt. Es ist die Chance, unseren Planeten in Zukunft nachhaltig zu bewohnen und für unsere Kinder und Enkel zu bewahren.

 

Das Geld neu denken

Mit einem neuen Wissen über die Mechanik und den Einfluss von Geldsystemkonstruktionen könnten wir in Zukunft neue Systeme erschaffen. So wie die Menschheit heute große Kraft aufwendet, um wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, so würde ein neu gestaltetes System uns vielleicht ermöglichen, diese Kraft neu auszurichten. Wie wäre es, wenn wir neue Geldsysteme mit Werten ausstatten, die uns wichtig und überlebensnotwendig sind?

 

Vielleicht könnten wir mit einem Bewusstsein über solche Möglichkeiten zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit bewusst das Potential dieser Systeme kreativ nutzen und sie mit dem Bedarf des Planeten und den Bedürfnissen der Gesellschaft in Einklang bringen. Eine Vorraussetzung, um diese Chance zu ergreifen, ist ein neues Bewusstsein - eine Bereitschaft und Neugier, unser Geld als Ausdruck einer an menschlichen und gesellschaftlichen Werten orientierten – einer kulturschaffenden – Wirtschaft neu zu denken.

 

So wie der Chiemgauer durch neue Erfahrungen seit elf Jahren zu diesem Erwachen beiträgt, so könnte ein neuer Blick auf die Hintergründe der Geschichte MOMO diesem Erwachen zusätzliche Kraft geben.

 

Michael Endes leidenschaftliches Bemühen, die Eigenschaften von Geldsystemen auch in das rationale Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, ist zu seinen Lebzeiten gescheitert. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif, eine ökonomische Krise noch nicht spürbar. Die Welt war noch geteilt in Gut und Böse, West und Ost, faul und fleißig, schuldig und unschuldig, die Vorteile des Systems noch zu mächtig und die zerstörenden Auswirkungen noch zu weit entfernt.

 

Ein Grund dafür könnte aber auch sein, dass Zahlenkolonnen und Formeln sich nicht in unser Gedächtnis einprägen. Sie sind flüchtig wie der Rauch und die Kälte der grauen Herren. Das Buch erfreut sich noch immer ungebrochener Beliebtheit. Die Kinder von damals sind erwachsen geworden und lesen heute ihren eigenen Kindern aus MOMO vor. Viele von ihnen fühlen sich noch immer verbunden mit dem kleinen Mädchen, das vor 40 Jahren die grauen Herren besiegte.

 

Unsere Beziehung zu MOMO ist tiefgreifend, weil sie emotional ist. Diese Verbindung macht uns Hoffnung, den Überlegungen eine neue, breite Aufmerksamkeit zu verschaffen. Weitere Informationen über die Momo-Projekte finden sie unter angegeben Link.